Müssen Wehen weh tun?
Text, Annette Wirthlin, Schweizrfamilie 18/2016
Ohne Schmerzen gebären das geht mit einer Peridural-Anästhesie. Frauen, die eine sanftere Methode wollen, setzen auf SELBSTHYPNOSE. Und berichten von einer entspannten Geburt.
Die Geburt meiner Tochter vor drei Jahren tat nicht sehr weh.» Die Aussage von Nina Macias aus dem Kanton Zürich ist vollkommen ernst gemeint. Und umso überraschender, werden doch sonst unter Frauen vor allem Horrorgeschichten über die Erlebnisse im Gebärsaal herumgereicht. Von verwickelten Nabelschnüren ist da die Rede, von nicht enden wollenden Marathongeburten, von Schreien, von Dammrissen vierten Grades und von Blut, viel Blut. Man hört Sätze wie: «Ich dachte, ich kann nicht mehr», «Ich meinte, sterben zu müssen».
Anders bei Nina Macias. «Ich erlebte es nicht viel intensiver als das Ziehen im Unterleib während der Periode», sagt sie
bloss. «Jedenfalls hatte ich während der viereinhalb Stunden nie das Gefühl, ich müsste ein Schmerzmittel verlangen.»
Nun könnte man denken, dass die Erinnerungen der 42-Jährigen durch das Babyglück verklärt sind. Doch Nina Macias ist nicht die Einzige mit dieser Erfahrung. Unter dem Begriff HypnoBirthing macht sich in immer breiteren Kreisen von Frauen die Meinung breit, dass Gebären etwas Harmonisches und Entspanntes, ja Schmerzfreies sein kann einer speziellen Methode der Selbsthypnose sei Dank.
Seit alters sind unsere Vorstellungen vom Gebären negativ geprägt. «Du sollst mit Schmerzen Kinder gebären», das ist
schon in der Bibel zu lesen. Patrick Rittmann, 51, Leitender Arzt und Verantwortlicher Geburtshilfe am Zuger Kantonsspital, ist täglich mit dem Thema Geburtsschmerz konfrontiert. Er weiss, dass die meisten Frauen diesen auf einer Skala von 1 bis 10 etwa bei 8 bis 10 ansiedeln am oberen Ende also. Verursacht wird er zum einen durch den Gebärmuttermuskel, der sich rhythmisch zusammenzieht, um den Muttermund mit Druck zu öffnen und das Kind durch den Geburtskanal zu pressen. Zum anderen schmerzt in der Austreibungsphase die Dehnung der Beckenbodenmuskulatur, wo je nach Elastizität des Gewebes Rissverletzungen entstehen Dass die Geburt ein Kraftakt ist, liege
daran, sagt Patrick Rittmann, dass sich im Laufe der Evolution ein «Missverhältnis» von Schädelgrösse und Beckenausgang
entwickelt habe: «Das menschliche Gehirn und damit der Schädel wurde einerseits immer grösser. Weil sich der
Mensch andererseits zum aufrechten Gang aufrichtete, musste das Becken immer enger und der Beckenboden straffer
werden, damit die Organe auch im Stehen gestützt werden.» Eine neue Studie der Universität Zürich zeigt nun, dass die
Evolution aber auch vorgesorgt hat: Der Anstieg des Hormons Östrogen ab der Pubertät macht das Becken der Frau bis
zu ihrem 40. Lebensjahr weiter. Wie schmerzhaft eine Geburt wird, hängt mit der Grösse des Babys und jener des Beckens der Frau zusammen. Dass man einer Frau ein «gebärfreudiges» Becken ansehe, sei allerdings ein Mythos, sagt Patrick Rittmann. «Relevant sind die inneren Beckenmasse, und die haben mit der äusseren Körperform wenig zu tun.»
Die Angst vor den Wehen
Mindestens ebenso wichtig für die Schmerzempfindung sei die Einstellung der Gebärenden. Patrick Rittmann: «Wenn die Frau Angst vor den Schmerzen hat, wird es mit grosser Wahrscheinlichkeit mehr wehtun. Schmerz wird im Gehirn
verarbeitet.» Und wenn man sich der Schmerzen wegen am ganzen Körper verkrampfe,führe das zu zusätzlichen Schmerzen. Gerade jene Frauen, die sich im Internet und anderswo über alle möglichen Risiken informiert haben, würden Gefahr laufen, verunsichert zu werden und mehr Angst zur Entbindung mitzubringen. Heute wird im schweizerischen Durchschnitt jedes dritte Kind per Kaiserschnitt entbunden. Dies ist nicht allein, aber auch auf die verbreitete Angst vor den Geburtsschmerzen zurückzuführen. Zunehmend äussern Frauen während der Schwangerschaft den Wunsch nach einem Kaiserschnitt. Doch der Mediziner betont: «Ein Kaiserschnitt ist mitnichten schmerzlos. Es ist immerhin ein operativer Eingriff und der zieht andere Schmerzen nach sich.» Manchmal sei ein Wunschkaiserschnitt aber tatsächlich der bessere Weg, etwa dann, wenn eine Frau traumatisiert ist oder andere gute medizinische Gründe hat.
Lachgas ist wieder populär
Die stärkste Schmerzlinderungsmethode, die die Schulmedizin bietet, ist die Peridural-Anästhesie (PDA), bei der Medikamente in den Wirbelkanal injiziert werden. «Bei einer richtigen Anwendung kann man mit ihr den Schmerz völlig ausschalten», sagt Rittmann. «In unserem Spital kommt die PDA in etwa 50 Prozent der Fälle zum Einsatz.» Die meisten Erstgebä- renden wollen diese Methode zumindest in der Hinterhand haben. Und Zweitoder Drittgebärende, die schlechte Erfahrungen gemacht haben, bestehen nicht selten darauf. In Spitälern gibt es noch diverse weitere Verfahren zur Schmerzlinderung klassische Schmerzmittel, die intravenös oder unter die Haut gespritzt oder in Zäpfchenform verabreicht werden. In neuerer Zeit wieder populär geworden ist das bereits vor 100 Jahren in der Geburtshilfe eingesetzte Lachgas ein Gemisch aus Sauerstoff und Stickstoffmonoxid, das über eine Maske eingeatmet wird. Das Gas hat eine benebelnde, euphorisierende Wirkung. Es lässt den Schmerz nicht verschwinden, er wird aber erträglicher. «Wir machen damit gute Erfahrungen», sagt Patrick Rittmann.
In Geburtshäusern wie etwa jenem in Stans NW kommt medikamentöse Schmerzmilderung nicht in Frage. Die dort tätige Hebamme Susanne Leu, 45, die schon 800 Kindern auf die Welt geholfen hat, ist überzeugt: «Gebären ist eine Urgewalt.
Da gehört Schmerz einfach dazu.» Die Wehen würden benötigt, sagt sie, um im Gehirn der Mutter die richtigen Mengenverhältnisse der im Geburtsverlauf benötigten Hormone freizusetzen. Aber: «Gebären ist auch eine Glaubensfrage.» Sie meint damit, dass man den Umgang mit dem Schmerz und den eigenen Kräften beeinflussen könne. «Wenn man es schafft, den Schmerz mit etwas Positivem zu verbinden,kann man ihn quasi umpolen.» Wenn Frauen auf irgendetwas schwören, sei es auf Bachblütenkügelchen, eine bestimmte Atemtechnik oder auch nur schon die richtige Musik im Gebärsaal, dann helfe dies ihnen auch tatsächlich. Das erlebt die Hebamme immer wieder. Die psychologische Komponente beim Erleben von Schmerzen wird auch von den Vertreterinnen der HypnoBirthing-Philosophie betont, die derzeit
im Trend liegt. Seit das gleichnamige Buch der Amerikanerin Marie F. Mongan 2009 auf Deutsch erschien, ist der Begriff
des «sanften Gebärens» in aller Munde. Wer beim Stichwort Hypnose an den völligen Kontrollverlust denkt, wie er etwa in
Showhypnosen zelebriert wird, irrt. «Es geht einfach um Techniken, mit deren Hilfe Gebärende in Kontakt mit ihrem
Unterbewusstsein treten, sich körperlich und geistig völlig entspannen und negative Glaubenssätze durch neue, positive
ersetzen können», erklärt die Hypnosetherapeutin Nicole Regli, 42, aus Kriens LU, die als Coach im Bereich Geburtsvorbereitung und Geburtstrauma arbeitet. Bei der Selbsthypnose behält die Frau stets die Kontrolle über sich selber. Sie lernt, sich in einen Zustand zu versetzen,der dem vor dem Einschlafen oder kurz nach dem Aufwachen ähnelt. «So bleibt man auch während einer langen Geburt bei Kräften und ist weniger schmerzempfindlich, weil es die natürliche Produktion von schmerzlindernden Endorphinen anregt», sagt Nicole Regli. Es gehe darum, positive innere Bilder über das Gebären zu schaffen, indem man etwa das Dehnen des Geburtskanals als einen Trikotstoff visualisiert, der sich mühelos dehnen lässt. Um schon mit der Wortwahl Negatives auszuschliessen, sprechen die Vertreterinnen des HypnoBirthing statt von Wehen von «Wellen». Vor einigen Jahren sei die Philosophie noch oft als esoterisch belächelt worden. Doch heute seien auch knallharte Businessfrauen und deren Partner begeistert von den Kursen, die Nicole Regli unter dem Titel «Mentale Geburtsvorbereitung» anbietet. Die Hypnosetherapeutin weiss: Nicht selten ändern Frauen, die sich erst für einen Wunschkaiserschnitt starkmachten, im Laufe des Kurses ihre Meinung und lassen sich auf eine natürliche Geburt ein. Mittlerweile werden die Kurse auch von Spitälern angeboten.
Schmerzfrei dank Selbsthypnose
«Als Eltern haben wir es zu 80 Prozent in der Hand, wie die Geburt verläuft», ist Nicole Regli überzeugt. Die vierfache Mutter hat die Methode bei der Geburt ihres letzten Kindes selber angewendet und sagt: «Es war schlicht wunderschön.» Je
bewusster man sich damit beschäftige, was gebären wirklich heisse, und ein Verständnis dafür entwickle, dass der weibliche Körper auf perfekte Weise dafür gebaut ist, desto geringer seien die Schmerzen. Die Geburtshaus-Hebamme Susanne Leu trifft in letzter Zeit häufig auf Frauen, die sich mit Selbsthypnose auf die Geburt vorbereitet haben. Einige von ihnen berichten danach, sie hätten keine Schmerzen gespürt. Dies, obwohl Susanne Leu sehr wohl Anzeichen von Schmerz beobachtet hat. «Aber wenn jemand es schafft, den Schmerz anders wahrzunehmen oder ihn schlicht zu vergessen, will ich ihm das doch auf keinen Fall nehmen!»
Nina Macias hörte vor der Geburt ihres Kindes immer wieder eine CD mit Entspannungsmusik und lernte, in eine Art Dämmerzustand abzutauchen. Jeden Abend rieb sie sich ein Duftöl auf die Handgelenke und stellte sich vor, dass alles
gut gehen wird. «Es hiess, der Körper würde sich dann an das abgespeicherte Gefühl erinnern», erzählt sie mit einem Schmunzeln. Horrorgeschichten zum Thema Geburt ging Nina Macias konsequent aus dem Weg. Für eine bessere Durchblutung des Beckens zog sie bei der Geburt warme Socken an und konzentrierte sich darauf, stets auf «Aaah» oder «Oooh» auszuatmen, was eine tiefe Bauchatmung fördert. Und vor allem vertraute sie darauf, dass sie es gut überstehen würde.
Text, Annette Wirthlin, Schweizrfamilie 18/2016